Sonntag, 18. September 2011

Salvo|schreibt mit dem Aufziehvogel: Der Takt des Herzens (Salvo)


Kaum hat es begonnen, unser kleines, gemeinschaftliches Projekt, schon endet es auch (zumindest vorerst).
Aus privaten Gründen konnte ich meine Geschichte erst etwas später abgeben als geplant. Salvo veröffentlichte beide Geschichten bereits am Freitag auf seinem Blog.

Der Takt des Herzens ist sein Beitrag. Eine kurze Geschichte. Ein kleiner Leckerbissen. Die Geschichte zu lesen ist vergleichbar mit einem teuren Gericht welches ganz speziell für einen Feinschmecker zubereitet wurde. Salvos Erzählung könnte problemlos der japanischen Literatur zugeordnet werden. Sie ist geheimnisvoll und voller Rätsel. All das macht eine gute Geschichte aus. Einmal mehr bin ich völlig begeistert.

Was mich jedoch sehr überraschte war wie sehr sich die Grundthematik von Salvos und meiner Geschichte doch ähnelt. Aber wie heißt es so schön? Letztendlich dreht sich immer alles um eine Frau.

Viel Spaß zur ersten Runde: Salvo|schreibt mit dem Aufziehvogel.

Direkter Link zu Salvos Geschichte: Salvo schreibt


Der Takt des Herzens

Eine Spinne, kaum größer als die Spitze meines Zeigefingers, krabbelte über die verstaubte Theke der Rezeption. Nach langer Suche hatte ich endlich ein Quartier für die Nacht gefunden, doch die einzige Lebensform, die mich in Empfang nahm, war dieses kleine Tier.
Die Kuckucksuhr an der Wand hinter der Theke gab in gleichmäßigen Abständen ein Ticken von sich, welches sich in den hohen Decken des Foyers verlor. Ein leeres Sofa stand in der Ecke. Benutzt. Der Stoff war dünn und lose Fäden zierten die abgesessenen Stellen.
Zum bereits dritten Mal drückte ich auf die silberne Rezeptionsklingel, um jemanden vom Personal zu rufen. Für einen Moment erklang ein heller Ton, verstummte aber nach wenigen Sekunden. Was blieb, war das immergleiche Ticken der Kuckucksuhr.
Mein Blick schweifte zum Glaskasten an der Wand, in dessen Inneren die pechschwarzen Zimmerschlüssel hingen. Niemand da, der mir einen herausgab.
Während ich mir ausmalte, wie ich über die Theke kletterte und einen Schlüssel aus dem Glaskasten entwendete, drang ein Quietschen an mein Ohr. Es kam von der Eingangstür. Als ich mich umdrehte, stand dort eine alte Dame mit Gehstock.
„Ein Gast? Um diese Zeit?“ Ihr Gesicht verschwand in Falten.
Ich nickte.
Sie begab sich in kleinen Schritten Richtung Rezeption. Ihre Körperhaltung war gekrümmt. Als die Dame hinter der Rezeption auf einem Stuhl Platz genommen hatte, zog sie in einer routinierten Handbewegung das Gästebuch aus einem Fach und legte es mir mit einem silbernen Füller vor.
„Sie bleiben eine Nacht, Einzelzimmer mit Bad, keine Fenster. Bitte tragen Sie sich hier ein.“
Für einen Moment starrte ich sie an. Es war nicht ihre aufdringliche Art, die mich überraschte, sondern vielmehr die Genauigkeit, mit der sie voraussagte, was für ein Zimmer ich wünschte, ohne ihr etwas darüber mitgeteilt zu haben. Ich schätze, es war ihr Gespür als Rezeptionistin.
Ich nickte erneut und nahm den silbernen Füller. Er war kalt. Die Dame deutete mit ihrem Finger auf eine leere Zeile im Buch. Die schmalen Knochen ihrer Hand zeichneten sich auf ihrer Haut ab.
Ich unterschrieb wie befohlen mit meinem Namen auf die gedeutete Stelle und reichte anschließend der Dame den Füller. Doch sie schüttelte den Kopf.
„Behalten Sie ihn. Sie werden ihn noch brauchen.“
Sie begab sich zum Glaskasten, nahm einen Schlüssel heraus und drückte ihn mir in die Hand.
„Zimmer 23. Bezahlen Sie spätestens morgen früh, wenn Sie abreisen.“ Ihr Gesicht senkte sich kurz, dann drehte sie sich zur Kuckucksuhr. Aufmerksam ruhten die Augen der alten Dame auf den Zeigern des Ziffernblattes.
„Gehen Sie nun“, sagte sie.
Während ich die Treppen mit meinem Koffer in der Hand hinaufging, warf ich einen letzten Blick auf die Dame. Sie stand noch immer an derselben Stelle und starrte wie besessen auf die Uhr. Was faszinierte sie nur an diesem tickenden Stück Holz? Ich besaß keine Antwort darauf. Genauso wenig, wie ich wusste, woher sie bemerkt hatte, dass ich seit meiner Kindheit stumm war.

Die Luft im Zimmer war klamm und der Teppichboden unter meinen Füßen feucht. Aufmerksam schaute ich mich im Raum um, in dem ich mich nun befand. Er bat mir alles, was ich für die Nacht brauchte. Die Lampe, welche einsam auf dem Nachttisch stand, warf ein schwaches Licht an die Wände. Neben ihr befand sich ein Notizblock. Ich platzierte den silbernen Füller auf dem Papier und legte mich auf das Bett. Mit einem lautlosen Seufzer streckte ich meine Arme und Beine von mir.
Mein Körper sehnte sich nach einer Pause, auch wenn mein Geist mich stets wach hielt. Etliche Stunden und Tage war ich bereits mit dem Auto unterwegs gewesen. So lange, dass ich schon fast selbst nicht mehr wusste, wo ich mich überhaupt befand, in welcher Stadt ich war, welche hinter mir und welche noch vor mir lagen. Dabei war das Ziel meiner rastlosen Suche nur eine einzige Person. Marie.
Sie war über Nacht verschwunden. Eines Morgens wachte ich einfach ohne sie in unserem Bett auf. Anfangs vermutete ich, sie wäre früher aufgestanden, um etwas zu erledigen. Doch sie kam nie zurück. Ich wusste nicht, was ihre Beweggründe waren, einfach zu gehen. Sie hatte keinen Abschiedsbrief hinterlassen, auch niemanden Bescheid gesagt oder eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen. Sie war einfach nicht mehr da, so als hätte die Nacht sie verschlungen. Als hätte sie nie existiert.
Ich schloss meine Augen und sah ihr Gesicht. Blaue Augen, schmale Lippen, kleine Nase. Marie war keine Schönheit, wenn man sie nach ihrem Aussehen beurteilte. Doch ihre Stimme war das, was mich in ihren Bann zog. Unvergleichbar. Als käme man nach einem langen Marsch durch einen dunklen Wald endlich an eine Lichtung. Mir wäre es egal gewesen, wenn ich nicht nur stumm, sondern auch noch blind auf die Welt gekommen wäre, denn allein der Klang ihrer Stimme erfüllte mein Dasein mit einer unglaublichen Freude.
Bevor Marie an jenem Morgen verschwand, hatte sie mir in den Wochen davor oft von einem wiederkehrenden Traum erzählt, der sie seit Tagen beschäftigte. Kein Alptraum. Nur eine Szene an einem See. Sie saß auf einer Wiese an einem Apfelbaum gelehnt und betrachtete die glitzernde Oberfläche des Wassers. Sie saß dort so lange, bis die Sonne sich hinter den Gipfeln der Berge versteckte. Und sobald sich die nächtliche Dunkelheit um sie schlang, wachte sie auf.
Sie beschrieb mir diesen Traum mit einer Fülle an Details und solch einer Euphorie, dass es meinen ganzen Körper vor Angst erzittern ließ. Mich beschlich das Gefühl, dass dieser Ort wirklich existierte. Je öfter sie mir von davon erzählte, umso mehr sehnte sie sich nach ihm.
Nach Maries Verschwinden machte ich mich auf die Suche nach diesem Ort. Auf meinem Weg hielt ich in allen Gegenden, die auch nur ansatzweise den Beschreibungen Maries nahe kamen. Ich trug keine Karte oder vorgefertigte Route mit mir, nein, ich fuhr allein von diesem einen Bedürfnis getrieben, sie zu finden, von einem Ort zum anderen.
Marie.
Ich drehte mich mit geschlossenen Augen auf die Seite der Matratze. Um mich herum Stille. Nur das Ticken der Kuckucksuhr im Hintergrund erklang. Dabei war es unmöglich, dass der Schall von der Rezeption durch die Winkel des Hotels zu mir ins Zimmer dringen konnte. Ganz und gar unmöglich. Das Gefühl mein Herz klopfte im selben Takt der Kuckucksuhr, ließ mich hochschrecken.
Das Licht der Nachttischlampe warf großflächige Schatten an die Wand. Als ich sie betrachtete, verlor ich mich für einen Moment in ihrem schwarzen Inneren. Etwas wohnte in ihnen, das nach mir griff und mich zutiefst bedrückte.
In dem Augenblick spürte ich die Wärme einer anderen Person im Bett. Ich drehte mich zur Seite, und da sah ich sie. Eine Frau. Unbekleidet lag sie in Fötusstellung am anderen Rand der Matratze, das Gesicht zur Wand gerichtet. Ihre langen Haare bedeckten die Schultern.
Marie?
Sie schlief sanft und schien nicht zu frieren, obwohl noch immer eine unangenehme Kälte in dem Zimmer herrschte. Langsam wog sich ihr Körper auf und ab.
Die Lampe gab ein Knistern von sich und das Licht flackerte für einen Augenblick auf. Mit meinen Lippen formte ich ihren Namen, Marie, doch hörte sie mich nicht. Wie auch? Sie war so weit weg. Nur eine Armlänge entfernt. So weit weg.
Plötzlich löste sie sich aus ihrer Stellung und setzte sich auf die Bettkante, ihr Gesicht stets zur Wand gerichtet. Ich schaute dabei zu, wie sie sich langsam erhob und um das Bett herum schritt. Ihre Bewegungen so leicht, als würde sie schweben. Vor dem Nachttisch blieb sie schließlich stehen und nahm den Notizblock zusammen mit dem silbernen Füller an sich. Sie begab sich auf die Knie. Dann begann sie, etwas auf das Papier zu zeichnen.
Nach und nach nahm das Bild eine Form an. Eine Landschaft. Bäume entstanden, Wiesen, Berge, Wolken. In der Mitte ein glitzernder See. Unter die fertige Zeichnung schrieb sie einen Satz, der mir das Herz brach: Folge mir.
Ich löste mich aus meiner Starre und kniete mich zu ihr auf den Boden. Ich nahm sie in die Arme, strich ihr sanft durchs Haar. Sie strahlte eine solch angenehme Wärme aus, dass es die Kälte aus dem Zimmer und meinem Herzen vertrieb.
Nach meinem nächsten Atemzug war Marie bereits verschwunden. Was blieb, war der benutzte Notizblock mit dem silbernen Füller.
Folge mir.
Ich starrte auf die geschriebenen Worte. Ihre Handschrift war unverwechselbar. Sauber und leicht, jeder Buchstabe wie gemalt. Ich hörte plötzlich ihre Stimme, welche leise diesen einen Satz zu mir sprach.
„Folge mir.“
Mit einem Knall platzte die Glühbirne der Nachttischlampe. Danach Dunkelheit. Ich befand mich nicht mehr im Hotelzimmer. Ich war nicht mehr existent. Das Ticken der Kuckucksuhr erklang aus dem Nichts. Mein Herz pochte in ihrem Takt. Plötzlich spürte ich Maries Hände, welche sanft auf meinen Wangen ruhten. Sie hielten mich fest. Ihr Atem kitzelte meine Nase. Dann legten sich ihre Lippen auf meine.

Ich fand mich auf dem Boden des Hotelzimmers wieder. Noch immer spürte ich Maries Anwesenheit. Das Geräusch von Schritten drang an mein Ohr, woraufhin mein Blick in Richtung Tür schweifte. Sie stand offen.
Noch müden Körpers richtete ich mich auf, lief raus auf den Flur und stolperte die Treppen hinunter ins Foyer zur Rezeption. Die alte Dame stand noch immer an derselben Stelle mit demselben Blick auf die Kuckucksuhr gerichtet hinter der Theke. Das Ticken erklang.
„Sie ist gegangen“, sagte sie mit ruhiger Stimme. „Aber folgen Sie ihr nicht.“
Sie drehte sich um und sah mir in die Augen. Sah mich so an, wie die Kuckucksuhr. Sie erinnerte mich an eine Person, die ich früher einmal gekannt hatte.
„Man sollte nicht versuchen, die Zeit festzuhalten.“
Maries Gesicht erschien vor meinen Augen. Ich versuchte die Tränen zu unterdrücken und dachte an den See. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich den silbernen Füller in der Hand hielt. An ihm haftete noch Maries Körperwärme.
„Folge mir.“ Wieder erklang ihre Stimme.
War es wirklich Marie oder nur die Sehnsucht, die nach mir rief? Begleitet vom Ticken der Kuckucksuhr trat ich aus der Eingangstür hinaus zum See, dessen Oberfläche vom Sonnenlicht glitzerte. Marie hockte am Baum gelehnt auf einer Wiese. Als sie mich bemerkte, sah sie mir mit einem Lächeln entgegen. Ich nahm sie in die Arme und drückte sie so fest an mich wie nie zuvor. Ich hatte sie gefunden, doch mich selbst in diesem Augenblick verloren.

© 2011 Julian Stawecki

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