Sonntag, 18. September 2011

Gravitation: Kirschblüten im Winter


Kirschblüten im Winter
Anthologie: Gravitation
Genre: Mystery
Veröffentlichung: 17.07.2011

Kirschblüten im Winter. Ich mochte diesen Titel einfach. Es war die zweite Geschichte die ich in diesem Jahr geschrieben habe und gehört ebenfalls zu meiner Anthologie Gravitation. Die komplette Geschichte habe ich bereits seit Juli auf meinem Blog Am Meer ist es wärmer veröffentlicht.

Die Geschichte um einen abstrakten Kirschblütenbaum sollte eigentlich eine klassische Gruselgeschichte im Lovecraft Stil werden. "Die Angst vor dem geheimnisvollen".  Lovecraft beherrscht perfekt das seine Protagonisten eigentlich Angst vor gar nichts haben. Meistens sind es verlassene Häuser oder Ruinen in denen sich seine Geschichten abspielen. Immer wieder schafft er es jedoch zu gruseln ohne großartig ins Detail zu gehen. Das ist mir eindeutig nicht gelungen. Und so driftet auch diese Geschichte etwas von meinem eigentlichen Konzept ab. Sie wurde etwas blutrünstiger als ich es mir vorgenommen habe.

Die Handlung ist schwer zu erklären. Am Ende darf man selbst interpretieren. Aber auch Bei Kirschblüten im Winter geht es um ein mir liebes Thema: Die Flucht vor der Realität.
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Kirschblüten im Winter


Teil 1: 桜の花 (Sakura no hana)

1.

Willkommen zurück auf eine letzte Runde Night Drive hier auf Indie 19.87.
Immer wenn ich die Kings of Leon höre, und ich spreche hier von den Kings of Leon aus Because of the Times Zeiten, denke ich an einen einsamen Highway, eine endlose Straße die ins Ungewisse führt und ein mysteriöses Mädchen in meinem Wagen als Beifahrerin. Ich kenne nicht einmal ihren Namen, doch wir verstehen uns ganz ohne Worte. Wir kommunizieren alleine durch unsere gegenseitige Anziehung miteinander.
Ich donnere mit meinem Dodge Ram diesen endlosen Highway herunter, sie greift zu einer CD aus meiner Sammlung und legt sie in den Player. Sie entscheidet sich für Charmer von den Kings of Leon. Und kurz darauf überkommt mich eine unbändige Leidenschaft. Eine Leidenschaft nach dem Unerreichbaren.
Vielleicht bin ich zu sehr ein Romantiker. Doch vielleicht ergeht es einigen von euch ja ähnlich. Der Night Drive verabschiedet sich mit Charmer. Schlaft gut, die Nacht ist kurz. Ihr seid nur einen Riff vom nächsten Morgen entfernt.


Die markante und unglaublich faszinierende Stimme des Radiosprechers verebbt allmählich. Immer mehr rückt dafür die grandiose Gesangsstimme von Caleb Followill in den Vordergrund. Doch ich denke gerade nicht an einen trostlosen Highway. Ich denke eigentlich an gar nichts. Oder vielleicht doch! Ich denke glaube ich an Kirschblüten in diesem Augenblick. Kirschblüten im Winter. Kirschblüten die mir den Schlaf rauben und mich um meinen Verstand bringen.

Es ist 03:00 Uhr in der Nacht. Wie die Nächte zuvor endete der Night Drive von Indie 19.87 pünktlich. Die Nacht ist kurz. Ihr bin nur einen Riff vom nächsten Morgen entfernt. Ich reibe mir erschöpft die Augen. Schon bald wird mich der Schlaf wieder einmal übermannen. Ich kann gar nichts dagegen tun. Egal wie fest ich mir vornehme wach zu bleiben. Mein Schlaf scheint einen so starken Willen zu haben das er nichts zulässt was mich am träumen hindern könnte. Doch ich fürchte mich davor, von jenem ungnädigen Schlaf übermannt zu werden. Denn er wird mich wieder in eine bizarre Welt zerren. Fernab von sämtlichen Highways, geheimnisvollen Frauen und unendlicher Freiheit. Stattdessen werde ich in eine seltsam fragile Dimension gesogen. Völlig alleine und isoliert. Zu diesem Zeitpunkt werde ich wie immer erneut keine Ahnung haben das ich träume. Ich werde diese verschrobene Welt als die Realität ansehen und fürchterliche Angst haben. Immer wieder sucht mich ein und derselbe Albtraum heim. Immer wieder kehre ich in dieses verlassene Haus hinter dem Kirschblütenbaum zurück. Was geht in diesem Haus vor? Was will es mir sagen? Was hat all das zu bedeuten? Dabei fing doch alles so idyllisch an.
Sobald ich die Kontrolle über meine Augen verlor, und ich friedlich in meinem Bett einschlief, fand ich mich an einem sonderbaren Ort wieder. Es war eine saftige, grüne Wiese. Die Sonne strahlte und es schien mitten im Hochsommer zu sein. Diese Wiese vor mir schien auf dem ersten Blick kein Ende zu nehmen, als würde sie sich bis in die Unendlichkeit erstrecken. Doch wenn man weit genug in die Ferne schaute, sah man einen Hügel. Und auf diesem Hügel befand sich ein blühender Kirschblütenbaum. Dieses riesige Feld beanspruchte ich komplett für mich alleine. Niemand funkte dazwischen. Es war ein herrlicher Traum. Wer oder was auch immer mir diesen Traum bescherte, ich war dankbar dafür. Nach einem harten Jahr suchten mich immer wieder furchtbare Albträume heim die mich an jene schlechte Zeiten erinnerten. Nun aber sahen diese Zeiten ihrem gerechten Ende entgegen. Diese saftige Wiese und der herrlich blühende Kirschblütenbaum waren der Beweis dafür. Auch wenn die Atmosphäre mir etwas plastisch vorkam, so vermittelte sie mir aber dennoch nie das Gefühl das ich mich in einem Traum befand. Ich genoss den Weg zum Hügel. Ich fühlte mich geborgen. Als ob ein Säugling in den sicheren Armen seiner Mutter liegt. Immer wenn ich den Hügel erreicht hatte, staunte ich über diesen riesigen Baum. Von Traum zu Traum kam er mir gewaltiger vor. Die riesige Baumkrone warf Schatten. Es war angenehm, ein wirklich entspannendes Gefühl. Doch etwas beunruhigte mich zugleich auch immer. Ich musste immer wieder schauen was sich hinter dem Hügel und dem Kirschblütenbaum befand. Und das bedrückende dabei war das ich es nicht erkennen konnte. Sobald meine Augen sich auf das, was vor mir lag, richteten, sah ich nichts weiter als einen verschwommenen Hintergrund. Es war unmöglich auszumachen was sich dahinter verbarg. Doch ich machte mir nicht weiter Gedanken darüber. Es war ja an sich schon seltsam genug das ich immer wieder von dem Kirschblütenbaum träumte. Ich wusste aber ganz genau das mich nie etwas böses in diesem Traum heimsuchen würde.

Doch, je mehr sich mein Leben wieder zu meinen Gunsten entwickelte, desto mehr verfinsterte sich dieser einst wunderschöne Traum. Nie zuvor habe ich wem davon erzählt. Meine Freunde hätten mich vermutlich für kitschig gehalten, oder sogar verrückt. Mir wäre es einfach unangenehm gewesen über so etwas zu sprechen.
Dieser Traum war ein Geschenk. Meine eigene kleine Welt die mir einen entspannenden Schlaf bescherte. Doch von Woche zu Woche wurden meine Träume seltsamer. Manchmal war die einst saftige Wiese völlig verwittert. Einige andere Male fehlte sogar der Kirschblütenbaum. Der Hügel war da, doch von dem Baum fehlte jede Spur. Ich bemerkte schnell das etwas nicht stimmte. Das wohlige Gefühl von dem ich erzählt habe war fort. Eine kurze Zeit schlief ich ein und wachte am nächsten Morgen auf ohne mich an einen Traum erinnern zu können. Noch wirkte sich all das nur geringfügig auf mein Gemüt aus. Allerdings endete das jedoch als der Kirschblütenbaum zurückkehrte. Natürlich könnt ihr euch sicher denken das die Rückkehr des Baumes nicht so ganz meinen Erwartungen entsprach. Es schien das gleiche Feld zu sein das einst von der riesigen Wiese überzogen wurde. Die ganze Szenerie spielte nun aber im Winter. Da wo einst erfrischendes Grün zu sehen war, lag nun strahlend weißer Schnee. Aber aus weiter Ferne war wieder der Hügel zu sehen. Und auf dem Hügel der Kirschblütenbaum. Der Himmel sah grau und trostlos aus. Die Atmosphäre wirkte irgendwie angespannt. Ich machte mich dennoch auf zu dem Hügel, so wie ich es auch zuvor immer wieder getan habe. Ich stapfte durch den Schnee bis ich letztendlich den Hügel erreichte. Und ich konnte meinen Augen kaum trauen als ich den großen Baum vor mir sah. Er strahlte in voller Blüte. Und das mitten im Winter.

Erneut blieb mir der Blick auf das, was vor mir lag, verwehrt. Fortan genoss ich diesen Traum nicht mehr. Mir war endgültig klar das etwas nicht stimmte. Allerdings wurde das Szenario immer bizarrer. Bis zu dem Tag wo es mir gelang freie Sicht auf das zu erhaschen was vor mir lag. Von da an ging alles bergab. Kein Mensch sollte jemals erfahren was sich jenseits der Grenze befindet. Eine unsichtbare Grenze die in ein fremdes Reich führt.
Aber auch wenn man diese unsichtbare Grenze eigentlich gar nicht überschreiten will, man hat keine Kontrolle mehr über das Ich in seinem Traum. Man bewegt sich wie von selbst. Ist es die unkontrollierbare Neugierde? Oder ist es doch ein Instinkt der nach dem ungewissen lechzt? Es bleibt mir ein Rätsel.
Ich wagte den Schritt und betrat die Fremde Welt hinter dem Kirschblütenbaum letztendlich. Obwohl ich nun freie Sicht hatte, sah ich aber außer Schnee weit und breit nichts. Ich bemerkte jedoch kurze Zeit später das sich plötzlich über mir ein klarer Sternenhimmel gebildet hat. Es war es finstere Nacht. Und ein Schauder überkam mich. Selbst die trostloses grauen Wolken waren mir da willkommener. Ich fühlte mich einsam und verlassen. Ich blickte stets zurück und sah wie ich mich immer weiter von dem Hügel und seinem Baum entfernte. Ich legte einen schnelleren Schritt ein und marschierte immer weiter. Irgendwann musste etwas kommen. Das konnte doch nicht ewig so weitergehen. Und ich sollte nicht enttäuscht werden. Nach einer mir nicht auszumachenden Zeitspanne sah ich, wieder aus der Ferne, ein Haus. Je näher ich mich diesem Haus näherte, desto bewusster wurde mir das danach nichts mehr kommen würde. Das aus roten Backstein gebaute Haus befand sich auf einer Klippe. Als ich diese Klippe erreichte, versuchte ich zu erspähen was sich nun dahinter befand. Ob es vielleicht eine weitere, unsichtbare Grenze gab. Doch da war nichts. Schwärzer als Schwarz. Das absolute Nichts erwartete mich hinter dieser Klippe. Es sah bedrohlich aus, als ob es einen verschlingen will. Allerdings sah mir das Haus nicht unbedingt einladender aus. Auch wenn es von außen kein bisschen Marode oder zerfallen wirkte, irgendetwas unheimliches ging von diesem Haus aus.
Eine große Stahltür verwehrte mir den Eintritt. Es war kein Türknauf zu sehen. Fenster gab es auch keine. Das Dach war von Schnee bedeckt und ein kleiner Schornstein ragte aus dem grellen Weiß heraus. Ich bemerkte das Rauch aufstieg. Ein eigenartig verbrannter Geruch machte sich plötzlich in meiner Nase breit. Was passierte wohl gerade in diesem Haus? Befand ich mich wirklich noch in einem Traum? Mich überkam furchtbare Angst. Ich wusste eigentlich gar nicht genau wovor ich mich fürchtete, aber ein Schauder breitete sich über meinen gesamten Körper aus. Es war mir unmöglich meine Beine vorwärts zu bewegen. Außerdem hätte ich vermutlich nicht den Weg zurück gefunden. Ich schloss im Traum meine Augen. Es musste wohl eine Art Schutzmechanismus gewesen sein. Ich verschloss die Augen vor meiner Umgebung. Nach einer Zeit bin ich dann schweißgebadet in meinem Bett aufgewacht. Selbst die Realität fühlte sich in diesem Augenblick unwirklich und falsch an. Nach und nach meldete sich aber mein Verstand wieder und ich kehrte in die mir bekannte Welt zurück. Ich machte mir noch eine ganze Weile Gedanken darüber welche Bizarre Wendungen der Traum vom Kirschblütenbaum annahm. Natürlich wusste ich vor einigen Tagen noch nicht welcher Horror mich in meinen Träumen noch heimsuchen würde. Und ich wusste selbstverständlich auch nicht dass das Betreten dieses Hauses eine weitere Grenze war, die ich überschritten würde.
  
Teil 2: Nostalgia

2.

Nacht für Nacht den gleichen Traum zu haben, der auch noch wie eine TV-Serie stets fortgesetzt wird, kann man wohl als ein absurdes, nicht wissenschaftlich zu erklärendes Phänomen bezeichnen. Ich erwarte von niemandem das man mir diese Geschichte abkauft. Aber wenn sie euch nicht interessieren würde, oder ihr nicht ein Stückchen an ihr glauben würdet, bin ich mir sehr sicher das ihr schon gar nicht mehr bei Teil 2 dabei wärt.
Genau wie bei Bigfoot gibt es auch bei meiner unheimlichen Geschichte keinen Beweis für ihre Glaubwürdigkeit. Ich kann euch also nur immer wieder erzählen das ich hier von wahren Tatsachen spreche. Und ich spreche nicht über den Freund eines Freundes, über eine stark abgenutzte Geschichte die bereits zu einer Legende wurde weil sie von vielen Personen erzählt wurde, ich spreche, oder besser gesagt, ich schreibe über mich. Über ein Horrorszenario welches mich jede Nacht aufs Neue heimsucht.
Bereits jetzt kämpfe ich wieder mit der Müdigkeit. Doch bevor mich mein eigener Verstand endgültig in den Wahn treibt, möchte ich diese Geschichte bis zu seinem derzeitigen Höhepunkt erzählen.

Der Traum endete meist immer das ich vor jener Tür ohne Knauf stand und meine Augen schloss. Mein Verstand führte mich jedoch immer tiefer ins Labyrinth. Vielleicht ist die einfachste Erklärung ja auch, dass ich hier den Traum einer anderen Person Träume. Indizien dafür gäbe es (zu denen ich später kommen werde).
Mein Ich im Traum handelte immer gleich. Der Gang über die verschneite Wiese, die Ankunft auf dem Hügel, der Blick zum Kirschblütenbaum, der Marsch jenseits der Grenze. Immer wieder kam ich zu dem verlassenen Haus an der Klippe an, dort wo die Welt endete. Der Sternenhimmel schien immer finsterer zu werden, und das Haus immer unheimlicher. Ich konnte mein Traum-Ich nicht davon abhalten immerzu diesen Weg zu bestreiten.
Bis dann eines Nachts der Moment kam, als plötzlich ein Knauf an der riesigen Stahltür befestigt war. Er sah so familiär aus als könne die Tür nicht ohne ihn bestehen. Wie ich bereits erwähnte, wusste ich zu dem Zeitpunkt nichts davon was für eine Welt hinter dieser Tür lauert. Das ich eine weitere Grenze überschreiten werde. Doch wie immer hatte ich keinen Einfluss darauf. Mein Traum-Ich drehte den Türknauf nach Rechts. Ich verschloss nicht mehr die Augen um zu hoffen das ich aufwachen würde. Mit einer seltsamen Überzeugung drehte ich den Türknauf und öffnete die Tür. Und schon als ich Eintrat wurde mir klar das dieses Haus sich gegen sämtliche Logik sträubt. Es war modrig, düster und es hätte nicht realer wirken können. Der Boden bestand aus verrottetem Holz. Es stand ein einsamer Holztisch sowie zwei einsame, morsche Holzstühle im Esszimmer. Die Küche war komplett verrostet und verwahrlost. Eine geöffnete Tür wies den Weg in einen weiteren Raum, vermutlich das Wohnzimmer. Doch egal wie sehr ich versuche mich zu erinnern, es will sich einfach kein Bild von der Einrichtung aufbauen. Auch kann ich mich nach dem aufwachen nie daran erinnern ob es noch weitere Räume gab als die Küche und das Wohnzimmer. Das signifikanteste woran ich mich erinnern kann ist folgendes; im Wohnzimmer steht auf einem kleinen, runden Tisch, ein altes Radio. Und ganz in der Ecke des Raumes ein genau so alter Schaukelstuhl. Als ich das erste mal das Haus betrat, die Küche inspizierte, hörte ich aus dem Wohnzimmer kommend eigenartige Geräusche. Sie wirkten abgehackt und ich konnte sie keinem bekannten Geräusch zuordnen. Wie sich die meisten von euch nun sicher denken können, diese eigenartigen Geräusche machte das Radio. Doch was aus diesem Radio kam konnte man als wahrlich beunruhigend bezeichnen. Ich betrat das kleine Wohnzimmer und näherte mich dem Radio. Und zu hören war..... es klang wie die Rede eines Politikers. Eine uralte Rede. Vielleicht war es eine Kriegserklärung. Ich weiß nur das ich mich ziemlich davor fürchtete und sich mir die Nackenhaare sträuben wenn ich nur daran denke. Ein verlassenes Haus, unbewohnt, die Einrichtung kann man bestenfalls als antik bezeichnen, und plötzlich spielt das nicht minder antike Radio eine kryptische Nachricht ab. Das ganze ist zu vergleichen mit den unheimlichen Verschlüsselungen die man in einem gängigem, herkömmlichen Radio hören kann. Speziell eingerichtete Sender über die Geheimdienste und deren Agenten ihre Botschaften erhalten. Diese Botschaften bestehen aus Zahlencodes die für Jedermann, außer dem Agenten selbst, unverständlich sind. Dennoch wirkt es befremdlich wenn eine Computergenerierte Stimme auf einem unbekannten Sender scheinbar ohne Sinn irgendwelche Zahlen aufsagt. So erging es mir als ich das erste Mal vor dem Radio in meinem Traum stand und plötzlich diese uralte Nachricht hörte. Wollte man mir wohl etwas mitteilen? So wie es Glen Runciter in Ubik tat? Mir Hinweise in meinem Traum liefern. Das wäre eine Erklärung, würde aber ebenfalls wieder ins Absurde abdriften.
In dem Haus fühlte ich mich hoffnungslos verloren. Der Drang aufzuwachen war enorm. Ich realisierte erstmals eine unwirkliche Atmosphäre. Ich merkte das etwas nicht stimmte. Ich versuchte aus dem Haus zu rennen, doch nun fehlte der Türknauf wieder. Da es keine Fenster gab konnte ich nicht fliehen. Wie zuvor, als ich noch draußen vor der verschlossenen Tür stand, schloss ich meine Augen und hoffte das dieser Albtraum bald ein Ende finden würde. Doch es viel mir schwer mich aufs aufwachen zu konzentrieren da ich einen Krach aus dem Wohnzimmer vernahm, gepaart mit unmenschlichen Lauten. Meine Knie schlotterten und ich traute mich nicht umzudrehen. Dabei wusste ich das sich mir etwas näherte. Ich vernahm einen abscheulichen Geruch. Es roch wie vergammeltes Fleisch. Fleisch genau so antik wie die Einrichtung in diesem Haus. Und dieses Etwas welches vor wenigen Momenten noch monströse Laute von sich gab, stand nun genau hinter mir.
Und als ob die Episode einer TV-Serie mit einem Cliffhanger enden würde, wachte ich kurz danach auf. Wieder einmal schweißgebadet und voller Furcht.

Ich fühle mich wie der Hauptcharakter in einer Neil Gaiman Story. Die geraten auch immer in irgendwelche abstrakten, seltsamen Geschichten. Wer weiß, vielleicht bin ich ja nur eine fiktionale Figur in einer Neil Gaiman Story. Vielleicht begegne ich ja noch dem Sandman. Doch das würde keinen Sinn ergeben, ich bin mir ziemlich sicher das ich wirklich existiere. Ich bin lediglich im Begriff den Verstand zu verlieren. Meine weiteren Exkursionen in die Hütte sollten dies besser erläutern warum meine Nerven so blank liegen.

Mein zweiter Trip in die Hütte war noch befremdlicher. Der an der großen Stahltür befestigte Türknauf gehörte mittlerweile zum festen Inventar dieser skurrilen Baute. Erneut trat ich ein, gesteuert von einer unsichtbaren Kraft. Ich fürchtete mich schrecklich, doch ich bewegte mich wieder ohne selbst zu handeln. Ich stand erneut in der Küche, und aus dem Wohnzimmer war wieder das Radio zu hören. Diesmal ertönte Musik. Alte Musik. Es grauste mir als ich hörte das es I Don't Want To Set The World On Fire von den Ink Spots war. Ich tastete mich vorsichtig durch die Küche, völlig im unklaren was sich diesmal im Wohnzimmer befand. Je weiter ich mich dem Zimmer näherte, umso mehr Geräusche vernahm ich. Das knarzen des Schaukelstuhls zum Beispiel. Dabei hielt ich die ganze Zeit über meine Augen geschlossen. Als ich die diesmal geschlossene Tür zum Wohnzimmer öffnete vernahm ich optisch keine Veränderungen in dem Zimmer. Bis auf den Unterschied das ich nicht mehr alleine war. Im Schaukelstuhl saß ein alter Mann. Er wippte hin und her. Allerdings war nicht auszumachen ob es wirklich ein alter Mann war, denn sein Gesicht sah nicht menschlich aus. Es war eine grauenhafte Fratze voller Narben. Seine Augen glichen die einer Fliege. Blutrot waren sie. Sein Körper, selbst seine Kleidung wirkten jedoch völlig menschlich. Sein gesamtes Erscheinungsbild widersprach allem was ich zuvor kannte. Eine innere Panik ergriff mich. Doch bevor ich mich wirklich fürchten konnte wanderten meine Augen einen Blick nach Links, abseits der Gestalt auf dem Schaukelstuhl. Vor dem Radio stand mit dem Rücken zu mir Gewandt, eine alte Frau. Sie war extrem dünn, trug ein langes, billiges Kleid wie man sie oft bei den Trümmerfrauen aus dem zweiten Weltkrieg sah. Ihre Haare waren so weiß wie der Schnee außerhalb des Hauses. Keiner der beiden schien mich zu bemerken. Die alte Frau drehte ein wenig am Radio, und promt wechselte der Sender. Nun ertönte Sleepwalk und ich begriff allmählich worauf die ganze Situation hinaus laufen sollte. Ich ging ein paar Schritte Rückwärts. Dies tat ich jedoch so langsam das es den Anschein vermittelte als würde ich gleich einen Tanz zu Sleepwalk ablegen. Dann drehte sich die alte Frau um. Ich begann zu zittern und ein eiskalter Schauder ergriff meinen Körper. Sie trug eine große Brille mit gigantischen Gläsern (gigantisch. ein Wort welches ich wirklich nicht oft benutze), ihr Gesicht war so faltig das ihre Stirn beinahe ihre Augen verdeckten. Diese Frau wird Mühen gehabt haben überhaupt etwas vernünftig zu erkennen. Dennoch ließen die riesigen, lupenartigen Gläser ihre kleinen kleinen Äuglein riesig erscheinen. Was mir jedoch diesen unbändigen Schrecken einjagte waren zwei Dinge: Zum einen war ich verblüfft das sie, im Gegensatz zu dem Wesen im Schaukelstuhl, komplett menschlich aussah. In einem solch verrückten Traum ist ein menschliches Wesen wohl das geringste was man erwarten würde. Zum anderen schien mir ihr liebliches, und durch die ganzen Falten auch zugleich bedrohliches Gesicht ungemein vertraut. Ich meinte sie schon einmal gesehen zu haben. Sie sah aus wie eine Person die öfter auf mich aufpasste als ich noch klein war. Jedoch gehörte sie nicht zur Familie, die Mutter meiner Mutter, meine Oma, starb bereits kurz nach meiner Geburt. Die alte Frau musterte mich gründlich. Der alte Mann im Schaukelstuhl tat es ihr gleich, wenn auch wesentlich uninteressierter. Ich erschrak erneut als sie plötzlich ihren knochigen Arm ausstreckte und nach mir griff. Ich trat einige Schritte zurück, doch sie begann mir zu folgen. Und anschließend vernahm ich wieder diese unmenschlichen Laute. Diese ertönten als die alte Frau ihren Mund aufmachte. Sie riss ihn so weit auf das ich Angst hatte ihr Kiefer würde gleich heraus brechen. Der alte Mann verfolgte das Geschehen amüsiert. Das kreischen der alten Frau verwandelte sich jedoch immer mehr zu einem röcheln. Es waren qualvolle Laute. Sie würgte Blut aus ihrer Lunge hoch und eine dunkelrote Brühe quoll ihr aus dem Mund und tropfte auf den maroden Holzboden. Ich bewegte mich schnell durch die Küche, wo es nun nach gegrilltem Fleisch roch, auf die Tür zum Ausgang zu. Zu meiner Verwunderung war sie geöffnet. Als ich draußen war stapfte ich durch den Schnee, doch den Lauten zu urteilen war die alte Frau immer noch hinter mir. Als ich in die Ferne blickte sah ich den Kirschblütenbaum der nun hell strahlte. Ein unheimliches leuchten. Man konnte es glaube ich viel mehr als ein glühen bezeichnen. Doch bevor ich den Baum weiter aus der Ferne begutachten konnte spürte ich wie es angenehm warm wurde. Diese angenehme wärme breitete sich auf meinen kompletten Unterleib aus. Diese liebliche wärme riss mich aus dem Horror und ich befand mich einmal mehr, völlig erledigt, in meinem Bett wieder. Nun auch noch durchnässt. Das letzte mal das mir so etwas passiert war muss 10 Jahre her sein.

An dieser Stelle enden meine Erinnerungen. Seit einigen Tagen schlafe ich nun schon wieder ohne mich an irgendetwas erinnern zu können was während der Traumphasen geschehen ist. Meine Augen werden schwer, das Radio plärrt vor sich hin. Ich höre noch den Auftakt von Sleepwalk als mir endgültig die Augen zufallen und ich die Kontrolle über meinen menschlichen Körper verliere und durch die ruhige Melodie entspannt einschlafe.


Teil 3: Dream On


3.

Ich befinde mich auf einem riesigen Feld. Wo bin ich? Es ist nicht der übliche Platz an dem ich mich sonst immer befand. Kein Kirschblütenbaum. Kein Schnee. Kein Hügel. Ich befinde mich auf einer riesigen Ebene. Und so weit ich schauen kann ist lediglich das Haus geblieben. Der Boden unter mir fühlt sich an wie.... Acker? Er ist völlig ruiniert. Ohne den Schnee wirkt nun alles noch finsterer. Der Himmel schaut irgendwie gelblich aus. Als ob sich die Wolken mit giftigen Chemikalien vollgesogen hätten. Ich fühle mich wieder so allein und hilflos. Eine bereits betrübliche Landschaft musste nun einer weichen die noch viel monotoner und einsamer ist. Ich realisiere erstmals das ich Träume. Oder habe ich die nächste Grenze überschritten? Bin ich in einer alternativen Realität gelandet? Ich darf mir darüber keine Gedanken machen. Nicht in diesem Moment. Ich muss mich erst einmal ordnen.

Tatsächlich ist nur die Hütte in Sichtweise. Diese sieht jedoch komplett anders aus als in allen anderen Träumen zuvor. Von weitem sieht es aus als seien die Wände blutrot bestrichen. Eine Farbe die aussieht wie frisches Blut. Ich wage es dennoch mich der Hütte zu nähern. Doch ich bewege mich als hätte ich Kiloschwere Gewichte an meinen Beinen befestigt. Ich bemerke jedoch keine Erschöpfung. Ein Indikator dafür das ich immer noch träume. Plötzlich sehe ich jedoch das sich in der Ferne etwas tut. Die Tür geht auf. Und obwohl ich dem Haus noch längst nicht nahe gekommen bin erblicken meine Augen eine junge Frau. Unheimlich steht sie da und hält die Tür der Hütte auf. Als ob sie mich längst erwarte. Nun beginnt sie zu winken. Sie winkt mich zu sich herüber. Es ist ein freundliches winken das aber kaum bedrohlicher wirken könnte. Es mag widersprüchlich klingen, ja, aber etwas unheilvolles schwingt in ihrer Armbewegung mit. Doch aus dieser Entfernung kann ich die Frau nicht erkennen. Ihr Gesicht, nein, ihre ganze Gestalt ist nicht zu identifizieren. Und dazu kommt es mir vor als würde ich mich immer langsamer fortbewegen. Ich erkenne das die Person vor die Tür wieder ihr Heim betritt und die Tür hinter sich schließt.

Langsamen Schrittes habe ich endlich die Hütte erreicht. Wurde es vielleicht wirklich mit Blut bestrichen? Ich möchte es ehrlich gesagt auch nicht so genau wissen. Die Tür jedoch hat sich verändert. Hat sich das Haus bis auf seinen Anstrich optisch kaum verändert, so musste jedoch etwas vertrauliches weichen. Die große Eisentür wurde anscheinend durch eine Holztür ähnlicher Größe ersetzt. Eine rostige Klinke ist mein letztes Hindernis. Ich schließe im vollen Bewusstsein meines Verstandes meine Augen, strecke meinen rechten Arm aus, forme mit meiner Hand eine Greifbewegung und drücke diese Klinke herunter.

Noch mit geschlossenen Augen bewegen sich meine Beine vorwärts, treten in die muffige Hütten ein und ohne das ich sehe was vor mir liegt rutsche ich auf einer klebrigen Masse aus. Ich lege mich furchtbar aufs Maul. Ich pralle mit meinem Kinn auf den Holzboden und spüre den Schmerz der gerade meinen Körper durchfährt. Schnell öffne ich die Augen um meine Umgebung zu begutachten. Es ist die Küche. Ein Geruch von vergammeltem Fleisch und Blut steigt mir in die Nase. Was zur Hölle.... Blut? Der ganze Boden ist voll damit. Und als ob jemand einen Eintopf kocht wurde die ganze Sauerei auf dem Boden noch mit Eingeweiden geschmückt. Ein Würgereiz überkommt mich und ich kann mich nicht mehr halten. Ich muss erbrechen. Der Gestank ist unerträglich. Was kann hier nur vorgefallen sein?
Fest steht nur das ich schnellstens aus diesem Raum raus muss. Nein! Ich muss diese Hütte verlassen. Dies ist längst kein Traum mehr. Ich bin in der Hölle gelandet. Und sie ist fürchterlicher und realer als Dante sie je beschreiben konnte.

Nel mezzo del cammin di nostra vita
mi ritrovai per una selva oscura
che la diritta via smarrita

Doch dort wo einst die Tür war, befindet sich nur noch eine Wand aus Beton. Ich muss mich ins nächste Zimmer begeben. Aber ich muss mich vorsichtig fortbewegen, ich könnte erneut auf dem Gekröse ausrutschen.

Ich flüchte zur nächsten, geschlossenen Tür, die ebenfalls aus Holz besteht. Es muss der Eingang zum Wohnzimmer sein. Hastig greife ich erneut zu einer Türklinke und trete in den Raum ein. Wie erwartet. Es ist das urige Wohnzimmer mit dem einsamen Radio auf dem kleinen, runden Tisch. Aber etwas ist anders. Hier ist es viel zu finster. Erneut überrascht mich ein modriger Geruch.

Und er riss... Eingeweide... und musste erbrechen...

Was...? Das Radio! Ich erschrecke mich fürchterlich. Wer tut mir nur so etwas an? Ich will hier raus!

Willkommen zurück auf eine letzte, verfickte Runde Night Drive mit Sally. An all die Schwanzlutscher da draußen die gerne eine Leiche in ihrem Waschbecken zerlegen; hier ein allerletzter Song für diese Nacht: Dream On, in der Interpretation von Kelly Sweet.
Bleibt immer schön Indie. Und habt eine Gute Nacht.

Ein Klatschen ertönt aus der hintersten Ecke. Es muss die Frau sein die mir zugewunken hat. Ich sehe das sich eine schmächtige Person aufrichtet und in der Dunkelheit langsam auf mich zukommt.

>>Du hast aber lange gebraucht. Hör mal, sie spielen unseren Song<<, flüstert mir ihre liebliche Stimme zu. Eine Stimme so warm und zart das ihr Gesang vermutlich Eis zum schmilzen bringen könnte. Vielleicht war es ihre Stimme wodurch der ganze Schnee draußen geschmolzen ist.

Mit einer geschickten Handbewegung greift sie nach etwas was sich über ihren Kopf befindet. "Klick". Und schon ist der Raum beleuchtet. Und nun sehe ich endlich wer vor mir steht. Nun erkenne ich sie. Und erneut könnte ich erbrechen.

<<Großer Gott. Irina. Wie ist das möglich?<<

Ich blicke in ihr makellos hübsches Gesicht. Ihre schulterlangen dunklen Haare sehen etwas zerzaust aus, doch die etwas wildere Frisur steht ihr gut. Sie ist elegant gekleidet. Eine hellblaue Bluse, ein weißes Top und ein enger Rock. Als ob sie zu einem wichtigen Termin erscheinen müsse. Ihre rosafarbenen Lippen werden von einem heiteren Lächeln umspielt. Es überkommt mich eine Sehnsucht die mir Tränen in die Augen jagt. Eine unerfüllte Sehnsucht sie endlich wieder in meine Arme zu schließen. Irina steht vor mir. Und genau ihre Anwesenheit ist der endgültige Beweis das auch dieses Szenario immer noch ein Traum ist. Denn tote können einem letztendlich doch nur in Träumen begegnen.

Irina bewegt sich sanften Schrittes dem Radio zu und stellt es leiser. Man könnte ihre Bewegungen auch mit einem Gleiten vergleichen.

<<Wie lange ist das nun her? Ich glaube wir haben uns seit einem Jahr nicht mehr gesehen. Wie geht es dir? Hast du etwa Angst?>>

Nun steht sie direkt vor mir. Ich kann ihr in die Augen schauen. Diese bildhübschen, braunen Augen. Ich muss mich beherrschen. Ich schlucke. Muss meine nächsten Worte mit Bedacht wählen.

<<Das ist nicht möglich, Irina. Du bist nichts weiter als eine Illusion. Ich habe aufgehört mit Illusionen zu sprechen.>>

Bei diesen Worten kommen mir die Tränen. Irina ist vor einem Jahr verschwunden. Und langsam komme ich dahinter.... Erst als die Polizei ihre Leiche fand, ich Gewissheit hatte das sie nie zurückkehren wird, begannen diese fürchterlichen Träume.Habe ich etwa versucht diese Ereignisse zu verdrängen?
Wir wollten uns verloben. Ich habe sie nur einmal aus den Augen gelassen. Sie war eingeladen auf der Geburtstagsfeier einer Freundin. Doch sie kehrte einfach nicht Heim. All die Suche war vergeblich. Sie war vom Erdboden verschluckt worden. Eine andere Erklärung gab es nicht. Doch im Juni besuchte mich die Polizei.

Irina streicht mir über meine rechte Wange. Ihre wärme ist spürbar. Es ist als würde sie aus Fleisch und Blut bestehen.

<<Na los. Verlassen wir diese düstere Hütte. Da draußen ist ein herrlich schöner Garten. Spazieren wir etwas. Dann können wir uns etwas ausgiebiger unterhalten.>>

Mit einer Handbewegung weist sie zu einer weiteren Tür am Ende des Raums. War die auch in meinen letzten Exkursionen in dieser Hütte da? Moment, dort wo die Tür ist saß doch beim letzten mal noch der alte Mann mit dem seltsamen Gesicht in seinem Schaukelstuhl.

Sie berührt sanft meine Schulter. Als wollte sie mich aus einem Tagtraum aufwecken. Noch immer läuft Dream on leise im Hintergrund.
Sie greift meine Recht Hand und als ob sie einer alten Dame über die Straße hilft führt sie mich. So ähnlich muss sich Dante gefühlt haben als ihn Vergil durch die Höllenkreise geführt hat. Noch immer völlig verdutzt folge ich ihr.
An der Tür angekommen, schiebt Irina die morsche, aber stabile Holztür mit ihrer noch freien Hand auf. Je weiter die Tür aufgeht umso mehr grelle Sonnenstrahlen fallen in die düstere Hütte. Zum ersten mal wird diese finstere Welt mit Licht erfüllt.
Meine Augen sind geblendet von dem Licht und es fällt mir schwer meine Umgebung optisch wahrzunehmen. Mit jedem Schritt wird die Sicht jedoch klarer. Die ganze Anspannung, der ganze Horror fällt von meiner Seele. Das ist nicht Eden, das Purgatorium oder der Himmel. Es ist eine andere Dimension. Eine Dimension fernab eines Traumes. Es muss eine weitere Grenze sein die ich überschritten habe. Vor mir baut sich ein harmonischer Garten auf der sich weit erstreckt und wo am Ende ein Pavillon im chinesischen Stil auf einen wartet. Irina führt mich über einen Weg der bebaut mit Marmorfliesen ist. Und soweit das Auge reicht, als ob sie uns beschützen wollen, stehen Links und Rechts von uns blühende Kirschblüten Bäume. Mit jedem milden Windhauch werden rosafarbene Kirschblüten zu uns geweht. Es ist ein Anblick der mit Worten nicht zu beschreiben ist.

Meine Gedanken sammeln sich wieder während mich eine schweigende Irina über den Marmorweg führt. Es war Mitte Juni als eines Nachmittags zwei Leute der Kriminalpolizei vor meiner Tür standen. Sie überbrachten mir die Mitteilung das ein anonymer Hinweis auf den Verbleib von Irina eingegangen sei. Dieser Hinweis stelle sich als 100% Korrekt raus. Der Anruf konnte nicht zurückverfolgt werden. Jedoch gehe man davon aus das der Täter selbst diesen Hinweis aufgegeben hat. Die Beschreibung war so präzise genau das kein Außenstehender der nicht persönlich dabei war (was in gleichzeitig zu einem Mittäter machen würde) solch eine Angabe abgeben könnte. Die beiden Beamten erklärten mir den Sachverhalt ganz genau. Irina wurde ermordet. Nein... es war kein Mord. Sie wurde regelrecht geschlachtet. Beinah all ihre Körperteile wurden abgetrennt. Jedes einzelne Körperteil wurde sorgsam vergraben. Ihre Organe und Eingeweide wurden an einem anderen Ort aufbewahrt. Welch kranker Bastard ist zu so etwas fähig? So verständnisvoll es mir die Beamten auch erklärten, ich musste mich übergeben. Als ich mich übergab, erbrach ich wohl auch all meine Erinnerungen an diesen Tag von vor zwei Monaten. Meine Erinnerung was praktisch gelöscht. Nur jetzt, in den Tiefen meines Unterbewusstseins, erlange ich die Erinnerung wieder. Irina wurde ermordet. Das hier muss ihre Werk sein.

Ihre Hand drückt fest zu. Erneut reißt sie mich aus meinen Gedanken. Wir haben den gemütlichen Pavillon erreicht. Von dort aus hat man einen perfekten Ausblick auf den ganzen Garten. Die finstere Hütte ist nur noch von weit weg aus zu sehen.

Irina deutet mir mit einer Handbewegung das ich mich auf einen der bequemen Sessel setzen soll. Ich befolge ihre Anweisung und setze mich. Sie tut es mir gleich. Im Wind wehen ihre Haare. Verdecken teilweise ihr Gesicht. Doch ich entdecke erneut ein Lächeln auf ihren Lippen. Ja, ihre vollen Lippen sind ganz deutlich zu erkennen. Es ist völlig ruhig. Lediglich der Wind ist zu hören.

<<Sag, möchtest du Musik hören? Das vorhin war doch unser Lieblingssong. Erinnerst du dich noch?>>

Mit einem Kopfschütteln verneine ich. Ich möchte keine Musik hören. Ich möchte nichts hören was die absolute Reinheit dieser Szenerie ruinieren könnte. Der Wind spielt bereits seine eigene Melodie.

<<Ja, ich erinnere mich.... aber so oft haben wir den doch gar nicht gehört. Bitte, erzähl mir warum wir hier sind. Wo bin ich? Ist das ein Traum? Oder vielleicht doch eine alternative Realität? Oder bist du es die mich all diese Träume heimsuchte>>, sage ich zu ihr und klang dabei ein wenig hilflos. Doch sie begann zu kichern. Es war ein süßes kichern. Als ob sie damit nur meine Hilflosigkeit bestätigte.

<<Du scheinst mir ein bisschen unbeholfen, Schatz. Kannst du dich denn nicht einfach freuen mich wiederzusehen?>>

<<Schon... aber du bist nicht echt. Das ist unmöglich. Bin ich etwa auch... tot?>>

Erneut kichert sie. Erstmals erblicke ich genau ihren Hals. Er wird von einer riesigen Narbe umspielt. Diese Narbe zieht sich vom Hals bis rund um ihren Nacken. Welch ein Anblick. Als ob der Kopf wieder angenäht wurde.

<<Wenn du denkst das diese Welt hier ein Traum ist, nun, dann bestätigt das sehr wohl meine Anwesenheit. Wenn sich diese Welt nach deinem Befinden verändert, könnte sie, labil wie du momentan bist, schon gleich wieder zusammenfallen. Glaubst du denn, hinter diesem Pavillon befindet sich noch eine weitere Welt?>>

Ich muss über ihre Worte nachdenken. Doch ich komme einfach nicht auf des Rätsels Lösung. Ich möchte mit Irina einfach nur zusammen sein. Aber viel zu viele Fragen lassen mir keine Ruhe. Ich brauche zuerst antworten.

<<Erkläre mir, was hat es mit dieser Welt hier auf sich? Was hat der riesige Kirschblütenbaum zu bedeuten? Wen sollen die alte Frau und ihr Ehemann im Schaukelstuhl darstellen? Wieso quälen mich diese Alpträume so sehr?>>

Irina scheint jedoch aufgeklärt zu sein. Meine Fragen scheinen sie nicht zu wundern.

<<Schatz... deine Erinnerungen sind doch mehr in Mitleidenschaft gezogen worden als ich annahm. All diese Leute und Schauplätze dienen doch nur dazu dir deine Erinnerungen wiederzubringen. Aber ich dachte der Baum alleine würde schon eine große Hilfe sein.>>

Ich schaue sie verwirrt an. Ihre Stimme. Genau so mädchenhaft wie ich sie in Erinnerung hatte. Doch was sie da gerade sagte, all das ergibt für mich keinen Sinn.

<<Hm... wie soll ich es dir erklären. Unter diesem Kirschblütenbaum haben wir damals, kitschig wie wir waren, unsere Liebe besiegelt. Und es war der gleiche Kirschblütenbaum an dem du mich begraben hast. Viel mehr waren es meine Einzelteile. Sorgfältig hast du sie alle vergraben. Du hast mich ausgenommen bis nichts mehr von mir übrig blieb. Und das was übrig blieb konnte man kaum noch einen Menschen zuordnen. Na, macht es Klick, Schatz?>>

Ein warmes lächeln geht von ihr aus. Ihre Worte treffen mich jedoch wie Betonklötze. Das ist nicht wahr. Eine Verleumdung. Ein Hirngespinst welches mir mein Traum vorgaukelt.

<<Rede doch keinen Unsinn. Was sagst du da, Irina?>>, stammle ich diese gerade ausgesprochenen Worte ein wenig pathetisch dahin.

<<Nein. Es ist die Wahrheit. Ich habe dich nie belogen. Ich habe dich nie mit jemand anderen betrogen. Und ich war so ehrlich zu dir wie es eine Frau zu ihrem Freund nur sein konnte. Ich wollte mich nicht verloben mit dir, geschweige heiraten. Wir sind viel zu jung. Da, schau... in dieser Hütte dort ist es geschehen. Hast mich erschlagen und anschließend auseinandergenommen. Und danach hast du einen Ausflug gemacht. Zu diesem kleinen Hügel. Dort wo der Kirschblütenbaum steht. Hast Löcher gebuddelt und jeden Knochen deiner Freundin begraben. In deinem Wahn hast du der Polizei dann Monate später einen anonymen Hinweis gegeben. Zumindest scheint dich dein Verstand nun so weit gebracht zu haben das du dieses Schicksal akzeptierst, es zulässt.>>

Bulllshit! Diese Schlampe da vor mir ist nicht Irina. Es ist eine Hexe. Sie lügt. Wieso sollte ich Irina ermorden und auf bestialische Art zerstückeln und ihre Einzelteile vergraben?

<<Lüge! Ich habe dich geliebt Irina. Du weißt das ich so etwas wahnsinniges nicht tun würde. Was sollte der Grund sein? Weil du die Verlobung abgelehnt hast? Soll das der Grund sein? Kennst du mich nach 5 Jahren denn so schlecht? Nenne mir einen Grund. Einen plausiblen Grund der diese Tat rechtfertigt.>>

<<Es gibt keine Gründe<<, sagt sie ganz gelassen und schaut verträumt in die Ferne.
<<Wie kann dir eine Tote denn irgendwelche Gründe oder Motive für deine Tat nennen? Und du scheinst es ja auch nicht mehr zu wissen. Streitest es ab. Vielleicht hat dir einmal etwas nicht gepasst. Hast zu lange Enttäuschungen oder Wut in dich hineingefressen. Ja, ein einziges mal hat es dir nicht gepasst eine weitere Enttäuschung hinnehmen zu müssen. Danach hast du dann die Kontrolle verloren. Es muss nicht immer für alles eine Erklärung geben. Deine dämonischen Albträume sind lediglich auf dein Unterbewusstsein zurückzuführen. Und nein, es ist bestimmt nicht die Schuld die dich Heimsucht. Das du mich ermordet hast, hast du längst verdrängt. Diese finstere Welt hier... sie spiegelt lediglich deinen wahren Charakter wieder. Nun wirst du fortan immer und immer wieder diese Qualen erleiden müssen.>>

Unweigerlich muss ich wie wild anfangen zu lachen. Ich erschrecke mich. Es ist ein wahnsinniges Lachen. Ich lache wie jemand der seinen Verstand verloren hat. Allerdings ist es so das ich mich dabei beobachte wie diese Person, dieses fremde Ich, dort im Sessel sitzend, so geisteskrank lacht. Vor seiner Freundin die er über alles liebte. Und die sich nun in ihren Worten bestätigt fühlt. Kirschblüten im Winter. Die verfolgen mich doch schon länger. Was rede ich da... sie verfolgen mich bereits mein ganzes Leben.

Mein Ich auf dem Sessel entspannt sich wieder. Sieht nachdenklich aus.

<<Everytime I look in the mirror. All these Lines on my face getting clearer...>> summt es vor sich hin.
<<...The past is gone. It went by, like dust to dawn. Isn‘t that the way everybody‘s got their dues in life to pay>>, komplettiert sie das gesumme. <<Bereust du es wie alles gekommen ist? Auch wenn du vielleicht nicht "Du" in diesem Moment warst. Du kannst es nicht rückgängig machen. Dream on until your dreams come true..Schau, das alles ist nur ein Trugbild.>>

Mit ihrem rechten Arm zeigt sie zur Hütte. Ich finde wieder zu mir selbst und nehme nun eine grässliche Kälte wahr. Die Haut blättert ab von ihrem Arm. Sie bröckelt immer weiter. Der Himmel färbt sich blutrot. Die Kirschblütenbäume verwittern und der ganze Schauplatz verwandelt sich in einen grausigen Ort. Aus jeder Ecke ist ein qualvolles Stöhnen zu hören. Es gibt kein zurück mehr. Die Person die einst Irina war zerfällt nun immer mehr in ihre Einzelteile. Ich schaue mir das Spektakel an wie auch alles andere hier in seine Einzelteile zerfällt. Mein Blick fällt auf die Hütte. Fünf Wesen, bis an die Zähne mit Beilen und Tranchiermesser bewaffnet durchschreiten die morsche Holztür und kommen auf mich zu. Nun muss ich mich vermutlich vor diesem Höllengericht verantworten. Doch wovor muss ich mich verantworten? Ich bin mir doch gar keiner Schuld bewusst. Sollte es wirklich stimmen was Irina zu mir sagte? Habe ich sie ermordet? Aber wann hat sich das alles abgespielt? Und wie bin ich so einfach mit all diesen Gräueltaten davongekommen? Jedoch muss ich an mein wahnsinniges Lachen zurück denken. Vermutlich habe ich ja wirklich den Verstand verloren. Die Geschichte ergibt doch gar keinen Sinn. Jetzt fürchte ich mich schon vor mir selbst.

Die fünf Henker, oder Schlächter, was immer sie auch darstellen sollen, haben den nun völlig verwitterten Pavillon erreicht. Ich blicke in ihre furchteinflößenden, unmenschlichen Fratzen. Klammere mich an meinem Sessel. Wie ein kleiner Junge der beim Zahnarzt sitzt und Angst hat wenn der Bohrer sich den beschädigten Zähnen nähert. Ihre Geräusche jagen mir eine höllische Angst ein. Gleich wird es vorbei sein. Jeweils zwei von ihnen packen einen Arm von mir. So kräftig das es sich anfühlt als würden sie mir die die beiden Gliedmaßen herausreißen. Ein dritter stellt sich hinter mir, packt meine Haare und zieht meinen Kopf nach hinten. Dabei streichelt er mit seinen Krallen meine Kehle. Die anderen beiden schärfen ein letztes mal ihre Klingen. Ich atme panisch. Komme nicht mit mir ins Reine. Eine Geschichte ohne Auflösung. Traum oder nicht Traum? Wie konnte es nur so weit kommen. Ein letzter Blick in Richtung Hütte. Langsam beginnen die Henker an mir herum zu sägen und hacken. Ich spüre die Tortur. Es sind schmerzen die nicht von dieser Welt sind. Noch einmal öffnet jemand diese verdammte Tür. Es ist die alte Frau. Mit ihrer riesigen Brille, als wäre es ein Fernglas, blickt sie noch einmal in meine Richtung. Sie winkt mir zu. Sie lacht freundlich und winkt mir zu. Als würde eine Oma ihrem kleinen Enkel, der völlig verängstigt auf dem Behandlungsstuhl des Zahnarztes sitzt, die Hand halten. Alles wird gut, sagt sie immer wieder. Doch nichts wird gut. Ich werde zerfleischt. Tranchiert. Und die Hölle hat diesen wunderschönen Garten in einen Ort der Verzweiflung verwandelt. Ja, um die Kirschblütenbäume tut es mir echt leid. Es sind ehrlich gesagt die Bäume die mir am meisten leid tun.

Ich wünsche mir so sehr einfach aufzuwachen. Wir alle hatten doch schon einmal solche Alpträume. Ein so schlimmer Alptraum wo dem träumenden ein Mord vorgeworfen wird. Wo er sich in einer Lage ohne Auswegs befindet. Der träumende hält alles für die Realität. Doch je absurder es wird, desto klarer wird die Situation für ihn. Und irgendwann wacht man auf.
Aber ich wache nicht mehr auf. Nein. Ich nehme sogar jeden Schmerz wahr. Hilfe! Bitte, irgendwer. Erlöst mich aus dieser Qual. Doch von irgendwo weit her höre ich lediglich eine Stimme. Eine engelsgleiche Stimme die immer wieder Dream On sagt. Es ist viel mehr ein Gesang. Beinahe tröstlich. Irina? Es tut mir leid. Vielleicht wirst du mir irgendwann verzeihen können. Allerdings scheint Versöhnung für mich kein Thema mehr zu sein. Lebe Wohl, Reailität.


Epilog:

Willkommen zurück zum Nightdrive hier auf Indie 19.87. Die heutige Nacht ist unglaublich mild. Irgendwie weht der Wind ein Hauch Melancholie durch die vier Himmelsrichtungen. Ich fühle mich als wäre ich aus einem langen, traurigen Traum erwacht. Kann mich nicht entscheiden ob ich Trauer oder Sehnsucht empfinden soll.
Keine Bange. Ihr befindet euch nicht auf Philosophie 19.87. Hier geht es immer noch um Musik. Es wird mal wieder Zeit für einen Wunsch. Und dieser Song passt einfach perfekt zu meiner Stimmung. Irina wünscht sich Dream On in der Interpretation von Kelly Sweet. Es ist wahrlich ein schönes Cover. Aerosmith können sich wirklich glücklich schätzen. Irina wollte mit dem Song eine ganz spezielle Person grüßen. Aber bevor ich sie nach einem Namen fragen konnte hatte sie leider schon aufgelegt. Ich hoffe bei dir ist alles in Ordnung Irina? Deine Stimme war echt der Hammer.
Dann Schlaf mal gut, du geheimnisvolle Lady. Die Nacht ist nämlich wie immer nur einen Riff vom nächsten Morgen entfernt.


Ende


Anhang: Soundtrack

Charmer (Kings of Leon)



I don't want to set the world on Fire (Ink Spots)



Sleepwalk (Santo and Johnny)



Dream On (Kelly Sweet, Cover)

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